historische persönlichkeit
Rosine Pauline Schlichter
Hermann-Hesse-Platz 3
75365 Calw
Trotz aller erdenklichen Unterschiede - nüchterner Realitätssinn auf Seiten der Mutter, ausschweifende Phantasie und Exzentrik beim Sohn - ließ der Maler und Schriftsteller Rudolf Schlichter den Kontakt zu seiner Mutter nie abreißen. 1927, in einer Zeit, in der er in Berlin Bertolt Brecht, Oskar Maria Graf und Egon Erwin Kisch porträtierte, malte er ein Bildnis seiner Mutter als alter Frau.
Die Näherin Rosine Pauline Schlichter, geborene Schmalzried, stammte aus Esslingen und lebte mit ihrem Mann, dem Lohngärtner Franz Xaver Schlichter (1852 bis 1893) im heute verschwundenen Gartenhaus der Villa Doertenbach am Hirsauer Wiesenweg. Dort wurde am 6. Dezember 1890 Rudolf als sechstes Kind geboren. Nach dem Tod des Mannes und einer Tochter zog Rosine Pauline Schlichter 1893 mit fünf Kindern - Klara, Gertrud, Max, Franz und Rudolf - ins "Biagel" (Im Biegel) und 1895 in das Haus des Uhrmachers Louis Rist an der Nikolausbrücke, heute Hermann-Hesse-Platz.
"Nach dem Umzug", berichtet Rudolf Schlichter im ersten Band seiner
Autobiografie (Das widerspenstige Fleisch) "fing Mutter an mit
Kleidernähen das nötige Geld zu verdienen, kam oft wochenlang nicht von
der Nähmaschine weg und aus der Stube heraus." Sie schaffte es so, ihre
jüngeren Kinder zu ernähren, der älteste Sohn war zu dieser Zeit bereits
in Stuttgart in der Lehre. "Später fing das Geschäft der Mutter zu
blühen an, sie bekam, da sie eine geschickte Näherin war, immer mehr
Kundschaft, hauptsächlich Bauernmädchen aus der Umgebung, die in Calw in
die Fabrik gingen." Gelernt hatte Rosine Pauline Schlichter ihr
Handwerk in Frankreich, wo sie drei Jahre in verschiedenen Dienststellen
zugebracht hatte, und zeitlebens lobte sie, voller Sympathie für das
Nachbarland, die demokratischen Umgangsformen, die Höflichkeit und den
feinen Geschmack der französischen Frauen.
Zugleich war sie eine äußerst streitbare Protestantin, die sich nicht
scheute, den Lehrern oder Geistlichen deutlich die Meinung zu sagen,
wenn sie glaubte, man habe ihre Kinder ungerecht behandelt.
Mit ihrem ausgesprochen phantasiebegabten jüngsten Sohn hatte sie
freilich auch die größten Auseinandersetzungen: um seine Moral und seine
Damenbekanntschaften, denn er entwickelte schon früh eine Erotomanie
und den Knöpfstiefel-Fetischismus. Im Laufe der Jahre - und mit seiner
wachsenden Berühmtheit - begann sie, ihn zu akzeptieren.
"Sie kam oft wochenlang nicht von der Nähmaschine weg und aus der Stube heraus."